Advent

Der lauschige, leise Kalender von B ‘n’ B (brian O’Gott & Bernhard Lassahn).

24 Winzig

Nun ist es soweit. Heute kommt der angekündigte Weihnachtsmann, der sich längst schon gelegentlich vor seinem angekündigtem Auftrittstermin zu Erkennen gegeben hatte, der bringt nun endlich die Geschenke. Na gut. Doch was feiern wir eigentlich? Die gute Mär, dass uns ein Kindlein geboren ist.

Wieso „uns“?

Das steht schon so in der Bibel … äh, sorry, da bin ich gar nicht so belesen … ich meine, es steht so bei Karl Ove Knausgård … nee, auch nicht, da bin noch nicht weit gekommen, bleibe aber dran. Es steht bei – richtig! – Peter Handke in der Kindergeschichte, in der er schreibt: „Sind Kinder allen Menschen doch die Seele. Wer dies nicht erfuhr, der leidet zwar geringer, doch sein Wohlsein ist verfehltes Glück.”

Was ist eigentlich so toll an Kindern?

Ganz einfach. Das Format. Wir lieben die Kleinen, weil sie winzig sind. Das gilt nicht nur für das Christkind. So erklärt sich auch – allen Spöttern zum Trotz – der zeitlose Erfolg von Bettina Wegners Lied Sind so kleine Hände. Es sind eben auch ganz, ganz kleine Hände. Stimmt. Ganz, ganz kleine Finger, die schon einen großen Finger umfassen und daran festhalten können.

Winziges Weihnachten

Gerade das Kleine ist es, was so großartig an Weihnachten ist. Die stille Nacht findet nicht bei Flutlicht statt, sondern im Glanz vieler kleiner Lichter, die den Paradies-Staub simulieren.

Auf dem Einwickelpapier sind kleine Engelein, die in winzige Trompeten blasen. Oder maßstabsverkleinerte Rentiere, die wir freundliche Insekten wirken. Oder kleine, grinsende Schneemänner. Schokoladenweihnachtsmänner gibt es in den Größen „small“, „extra small“ und „tiny“.

Warum hatten die berühmten Modelleisenbahnen, die gelegentlich mehr den Vater als das beschenkte Kind erfreuten, so eine legendäre Beliebtheit? Weil sie klein waren. Auch die Matchbox-Autos – „Matchis“ genannt – waren bei den kleinen Brüdern im Osten nicht nur deshalb beliebt, weil sie aus dem Westen kamen, wo es ja auch große Autos gab, sondern weil sie klein waren.

Bei den kleinen Eisenbahnen und kleinen Autos gab es viele „liebevolle Details“ zu bewundern. Warum werden solche Kleinigkeiten und Details als „liebevoll“ bezeichnet? Na, warum wohl? Weil sie winzig sind.

Und das Glück?

Auch das Glück sollte das richtige Format haben. Die richtige Größe. Wir sind es gewohnt, uns zum Neuen Jahr möglichst viel Glück zu wünschen. Dabei gibt es das Glück sowieso nur in der kleinen Dosis. Darum ist es auch so kostbar. Weil es winzig ist. 

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23 Ein alternatives Weihnachtslied


„Morgen, Kinder, wird’s was geben.

Morgen werden wir uns freun!

Einmal werden wir noch wach,

heysa, dann ist Weihnachtstag.“

So heißt es in einem der Weihnachtslieder, das zwar besonders bekannt, aber nicht besonders weihnachtlich ist. Es ist ein säkularisiertes Lied, das ohne christliche Motive auskommt. Es kommt kein Tannenbaum vor (es glänzen lediglich die Kerzen), der Weihnachtsmann ist überhaupt nicht vorgesehen (es ist immer nur vom „Weihnachtstag“ die Rede) und das Jesuskind wird auch nicht erwähnt.

Die Geschenke kommen – wer hätte es gedacht? – von den Eltern, die sich schließlich auch die ganze Mühe gemacht haben, und so werden die Kinder folgerichtig ermahnt, ihren Eltern dafür zu danken:

„Unsre guten Eltern sorgen
Lange, lange schon dafür.
O gewiß, wer sie nicht ehrt,
Ist der ganzen Lust nicht werth.“

Es war ein vergleichsweise nüchternes Lied ohne jedes weihnachtliche Brimborium. Doch für Erich Kästner war es offenbar noch nicht nüchtern genug, nicht sachlich genug. Und so schrieb er seine eigene Version – Weihnachtslied, chemisch gereinigt –, in der er anklagend auf die soziale Frage hinweist:

„Morgen, Kinder, wird’s nichts geben!
Nur wer hat, kriegt noch geschenkt.
Mutter schenkte Euch das Leben.
Das genügt, wenn man’s bedenkt. (…)

Morgen kommt der Weihnachtsmann.
Allerdings nur nebenan.“

Bei Kästner tritt der Weihnachtsmann auf – als Person –, doch es kommt gar nicht auf den „Mann“, sondern auf den „Tag“ an. Kaum ein Lied ist so sehr an einen Termin gebunden, wie Morgen, Kinder, wird’s was geben. Da wird ein Termin genannt: Morgen. Genauer: in den Abendstunden, wenn die Kerzen brennen.

 

 

Doch erst kommt der Sandmann

Erst Morgen kommt der Weihnachtsmann. Heute kommt um diese Zeit noch ein letztes Mal der Sandmann. Mit dem Sandmann stand ich auf Kriegsfuß.

Warum sollte ich ausgerechnet immer dann ins Bett, wenn das richtige Leben anfing? Ich wollte noch nicht ins Bett gesteckt werden, und ich kann immer noch alle Kinder verstehen, die das auch nicht wollen. Man fühlt sich ums Leben betrogen, als würde einem von der kostbaren Lebenszeit etwas abgeknabbert.

Es war doch klar wie dicke Tinte, dass das richtige Leben erst dann losging, wenn die Kinder im Bett waren. Dann wurden die Großen lustig, sie sangen sogar, sie tranken Erdbeerbowle und andere geheimnisvolle Getränke, die nichts für Kinder waren. Sie erzählten sich tolle Witze, die Kinder nicht verstehen konnten, und lebten überhaupt erst richtig auf. Ganz klar: Das wahre Leben war das, von dem Kinder ausgeschlossen waren.

Ich kann mich erinnern, dass ich einmal aus dem Bett geholt wurde und draußen in den Nachthimmel schauen durfte, weil man den Sputnik mit bloßem Auge erkennen konnte, der hoch oben am Himmel flog wie ein ungeduldiger Stern. Dann hieß es gleich wieder: husch, husch, ins Bettchen. Das war die große Ausnahme. Ansonsten galt: wenn der Sandmann durch war, war Schicht.

 

Der Weihnachtsmann als Alternative zum Sandmann

Doch es gab eine Ausnahme. Den Weihnachtstag. Sandmann und Weihnachtsmann hatten in etwa die gleichen Erscheinungstermine. Sie kamen immer dann, wenn die Kinder ins Bett gehörten. Doch der Unterschied konnte nicht größer sein: Wenn der Sandmann kam, war Schluss; wenn der Weihnachtsmann kam, wurde das Glück möglich, dann ging es überhaupt erst richtig los. Das war der Tag, an dem man nicht ins Bett musste.

Man durfte wach bleiben und spielen, bis man über den Geschenken eingeschlafen war; man durfte sie sogar mit ins Bett nehmen. Wenn der Weihnachtsmann kam, hatte der Sandmann Pause. Auch wenn man sonst von dem Rummel um Weihnachten nichts hielt, es war immerhin der Tag, an dem der Sandmann Hausverbot hatte.

Der brachte sowieso nur Versprechungen, nur Träume, die meistens gar nicht so toll waren – der Weihnachtsmann dagegen brachte den Zugang zur Nacht und zum richtigen Leben.

Also: einmal werden wir noch wach, doch ein einziges Mal lassen wir noch den Sandmann ran.

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22 Vier 

Was hast du für eine Glückszahl?

Viele halten die Drei für eine Glückszahl, wollen dieses Glück auch anderen zuteil werden lassen und lassen sie regelmäßig zu ihrem Geburtstag dreimal hochleben.

Für die Griechen war es die Vier, die ihr Weltbild prägte. Deshalb fanden alle vier Jahre Olympische Spiele statt. Sie kannten vier Temperamente, vier Himmelrichtungen, vier Elemente und vier Jahreszeiten, die ihren Siegeszug bis in die Gegenwart fortsetzten von Vivaldi bis zur Pizza gleichen Namens.

Die Vier hat sich am besten bewährt. Was auf vier Beinen steht, wirkt solide. Wenn man alle Vier beisammenhat, halten wir das für vollständig, dann können wir ablegen, egal ob es sich um Quartettkarten handelt oder um die Grundformen der Angst. Vier ist Trumpf und erklärt (u.a.) den Erfolg der Beatles: die waren halt zu viert, sie waren die wirklichen Fab Four, die fantastischen Vier (und nicht etwa diese Band aus Stuttgart, die sich nur so nennt).

 

Drei und Vier zusammen ist ideal

Die Vier war schon seit alten Tagen die angemessene Zahl für alles Irdische, die Drei dagegen stand für die Trinität. So galt in der Musiktheorie lange Zeit der Dreivierteltakt als vollkommen, weil er die göttliche Drei mit der weltlichen Vier vereinte, der Viervierteltakt dagegen galt als menschengemacht und unvollkommen. Auf die richtige Menge kommt es an – und auf die Kombination. So erklärt sich auch die Durchschlagskraft von Erfolgs-Filmen wie Vier Fäuste für ein Halleluja: vier irdische Kräfte wirken im Sinne von etwas Höherem.

Musiker wie Johann Sebastian Bach haben die Bedeutung der Zahlen sehr ernst genommen. Er war heilfroh, dass sein Nachname nur aus vier Buchstaben bestand – aus B-A-C-H. Aus Buchstaben, die man sogar in Noten schreiben konnte. Wer so ein Glück nicht hat, kann immer noch versuchen, seinen Namen zu tanzen.

 

Glück und Unglück der Zahlen

John Lennon glaubte ebenfalls an den Zauber der Zahlen – seine magische Zahl war allerdings die Neun – Yoko Ono bestärkte ihn noch in seiner Besessenheit, sie ließ sich ihrerseits von Numerologen beraten, die ihr die Zukunft vorhersagen ihr Tipps geben sollten, in welche Himmelsrichtung sie sich bewegen sollte. Womöglich hatte sie ein ernsthaftes Problem mit der Vier und wollte deshalb gerne das fünfte Rad am Wagen der Beatles sein.

Denn die Vier ist nicht überall beliebt. In Korea, Japan und China ist sie sogar eine Unglückszahl, klanglich ähnelt sie dem chinesischen Ausdruck für Tod. Manche haben eine regelrechte Phobie.

Wovor hast du Angst?

Phobien sind nicht gleichmäßig verteilt. Bei uns ist viel von Homophobie oder Transphobie die Rede, ich persönlich leide unter Selachophobie (die Angst vor Haifischen), glücklicherweise nicht unter Philematophobie (die Angst vor Küssen – ich bin allerdings gerade erkältet) und auch nicht unter Keraunothnetophobie (die Angst vor herabstürzenden Satelliten, obwohl ich mich schon früh mit Weltraumfahrt befasst habe). So mancher Asiat leidet wiederum an der Tetraphobie.

Die berüchtigte Viererbande, die nach dem Tod Mao die Macht übernahm, stand so gesehen von Anfang an unter keinem guten Stern.

Vier Kerzen, vier volle Becher

Vier Kerzen haben wir auch auf dem Adventskalender. Erst eine, dann zwei, dann drei, dann vier, one, two, three, four – wie es bei Rock’n’Roll-Bands heißt, die sich, eh sie loslegen, erst einmal ihrer Geborgenheit in der Welt der Vier versichern müssen.

Nach vier Bechern Glühwein brennt nicht nur die Kehle, dann beginnen wir auch wieder an das Fabelhafte – vielleicht sogar an Fabelwesen – zu glauben. Es ist eben etwas Fabelhaftes an der Vier.

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21 Glaubst du etwa noch an den Weihnachtsmann? 

Wenn Kinder ein gewisses Alter erreicht haben, dann glauben sie nicht mehr an den Weihnachtsmann, sie glauben auch nicht mehr an den Osterhasen oder an die Zahnfee.

Ersatzweise hat sich der Glaube an das Einhorn enorm weit verbreitet. Manche Kinder werden sogar nach der gefürchteten Einhorn-Methode erzogen: Man sagt ihnen, dass immer dann, wenn sie sich als Umweltsünder erweisen, wenn sie böse Worte sagen oder der Mutter irgendeinen Kummer bereiten –, dass dann ein Einhorn stirbt, so wie ein Tamagotchi erlischt, wenn man vergessen hatte, es zu füttern.

Es handelt sich um eine sehr weit verbreitete, aber durchaus fragwürdige Pädagogik. Die Kinder merken es nämlich schnell: Ein Tamagotchi kann man problemlos neu starten und auf ein Einhorn mehr oder weniger kommt es überhaupt nicht an. Es gibt ohne Ende Nachschub.

 

Gehört das Einhorn zu den bedrohten Tierarten?

Nein, Einhörner gehören keineswegs zu den vom Aussterben bedrohten Arten. Ein Einhorn ist heute kein seltenes Wesen mehr oder gar eins, von dem es nur noch ein einziges Exemplar gäbe – wie vom letzten Mohikaner –, vielmehr sind Einhörner heutzutage in einer Menge vorhanden, die man nicht mehr überblicken kann.

Es gibt sie nicht. Deshalb kann man auch über ihren Bestand nichts sagen. Wenn es sie nicht gibt – wenn sie also nicht leben –, dann können sie auch nicht sterben. Deshalb sollte man Kindern auch kein schlechtes Gewissen machen, und ihnen einreden, dass ein Einhorn ihretwegen gestorben wäre. Was nicht lebt, kann auch nicht sterben.

 

 

Es soll auch immer nur einen geben. Im Disneyland achtet man streng darauf, dass von den Figuren immer nur jeweils eine zur Zeit zu sehen ist. Es gibt verschiedene Darsteller, die sich ständig abwechseln, doch sie müssen sich dabei so koordinieren, dass zum Beispiel eine neue Mickey Mouse immer nur dann auftritt, wenn die Mickey Mouse, die schon da ist, gerade verschwindet.

Bei Weihnachtsmännern ist das nicht so. Da gibt es keine ordnende Hand. Weihnachtsmänner trifft man überall. Sie haben ihre Einmaligkeit eingebüßt. Es gibt sogar Mannschaftsfotos. Sie kommen neuerdings im Rudel. Der Weihnachtsmann wurde von einer singulären Erscheinung zu einem Massenphänomen.

Was es nicht gibt, kann auch nicht aussterben

Es stellt sich also gar nicht die Frage, ob man noch an „den“ Weihnachtsmann glaubt, sondern ob man an „die“ Weihnachtsmänner glaubt. Je mehr es von ihnen gibt, desto mehr verlieren sie an Bedeutung. Doch selbst wenn man viele von ihnen zu sehen kriegt, heißt das noch lange nicht, dass es den Weihnachtsmann auch tatsächlich gibt. Es gibt ihn weder im Singular noch im Plural. Doch wenn es keine Weihnachtsmänner gibt, dann können sie auch nicht aussterben. Dann wird man sie nicht mehr los.

Ich merke gerade, dass sich hier grundsätzliche Fragen auftun – Fragen, auf die womöglich selbst die Philosophie immer noch keine Antwort weiß. Hören wir kurz rein in den aktuellen akademischen Disput.

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20 Das ganz kleine Latinum 

Weihnachten ist die Zeit der kleinen Geheimnisse

Geheimnisvoll waren auch die Lieder, die man nur bruchstückhaft verstehen konnte und die möglicherweise ihren Zauber gerade deshalb hatten, weil sie immer ein Restgeheimnis enthielten, als gäbe es da ein letztes Geschenk, das noch nicht ausgewickelt war.

Da wurde etwa von der berühmten Jungfrau aus Erkoren gesungen. Wo lag der Ort überhaupt? Es klang nicht gerade nach einem typischen Ortsnamen, wie man ihn im Heiligen Land vermutet. Erkoren, Erkoren … das hörte sich eher nach einer Stadt im Sauerland an. Da gab es Orte mit reichlich merkwürdigen Namen wie Meschede, Olpe und Finnentrop. Vielleicht lag dieser bemerkenswerte Ort auch in Nordrhein-Westfalen, wo die Städte Namen hatten wie Hubbelrath und Erkrath. Von da aus war es bestimmt nicht mehr weit bis nach Erkoren.

Manche der Kirchen- und Weihnachtslieder setzten eben doch ein gewisses Expertenwissen voraus. Gut, wenn man Griechisch konnte und Latein, dann konnte man alle Fragen, die in den Liedern aufgeworfen wurden, aus dem Effeff beantworten: unsers Herzens Wonne liegt im praesepio-o-o, und leuchtet als die Sonne matris in gremio-o-o, Alpha, Effeff, Oh-o, Alpha, Effeff, Oh – alles klar?

 

Von alleine freuen sie sich offenbar nicht

Nun singet und seid froh, hieß es in dem schönen Lied In dulci jubilo. Da kam mir stets verdächtig vor: Zum Singen und zum Frohsein mussten die Herrschaften in der Kirche offenbar extra aufgefordert werden. Sie sangen nicht freiwillig und machten auch nicht den Eindruck, dass sie besonders froh wären. Sie strahlten jedenfalls keine ansteckende Fröhlichkeit aus.

Vermutlich gab es gerade deshalb solche Einpeitscher-Lieder wie Nun freut euch, ihr Christen, singet Jubellieder (Adeste, fideles), damit es denen mal eingebläut wurde, dass die sich freuen sollten, dass sie und froh sein und jubeln sollten. Denn von alleine taten sie es nicht.

 

Nieder mit den Bildungs-Barrieren

Womöglich sind die Bildungs-Barrieren ein gewisses Hindernis. Sie grenzen aus. Sie verhindern das ungetrübte Frohsein. Man sollte die Barrieren abbauen. Gerade zu Weihnachten. Damit alle mitreden können – und alle froh mitsingen können, wenn es heißt In dulci jubilo.

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19 Das gute Mehr 

Viele Geschäfte können heute gar nicht alles aufzählen, was man bei ihnen kaufen kann und sie behelfen sich dann mit dem Hinweis: » … und mehr«.

So gibt es etwa von den Berliner Verkehrsbetrieben Läden, die »Fahrkarten und mehr« anbieten: Regenschirme, Kissen, Kaffeetassen … Gerade Cafés bieten heute gerne »coffee & more« und machen damit deutlich, dass da noch mehr zu holen ist und dass da noch mehr dahintersteckt. Mehr, viel mehr.

Was genau? Das weiß man nicht. Coca Cola hatte einst den Werbespruch: »Coke macht mehr draus«. Mehr also! Aber was? Mehr halt. Sicher etwas Gutes. Etwas, das womöglich noch besser ist als das Erfrischungsgetränk selber. Aber …

Weniger ist mehr

So sagt man. Es stimmt. Es gibt durchaus Situationen, in denen diese auf den ersten Blick widersprüchlich wirkende Formel ihre Berechtigung hat. Weniger ist manchmal tatsächlich mehr und was zu viel ist, ist zu viel. Man muss sorgsam zwischen gutem Mehr und schlechtem Mehr unterscheiden, es gibt ja auch gutes Cholesterin und schlechtes Cholesterin. Wann ist denn nun das Mehr gut?

 

Die Frage lässt sich leicht beantworten: zu Weihnachten. Da wird der Baum keinesfalls schmucklos gelassen, der Gabentisch soll nicht öd und leer sein. Im Gegenteil: Der Baum wird geschmückt, bis er zusammenbricht. Die Geschenkpakete unter dem Baum stapeln sich in bisher nie gekannte Höhen. Bis schließlich der Punkt erreicht ist, an dem man sagen kann: Mehr geht nicht. Das ist das gute Mehr. Wo kommt es her?

Vom Himmel hoch 

Das gute Mehr kommt vom Himmel. So hatte ich jedenfalls als Kind den Text von Martin Luther verstanden. Vom Himmel hoch, da komm ich her, heißt es da, ich bring euch gute, neue Mehr. Das Luther-Deutsch ist recht altmodisch, die alte Schreibweise entspricht nicht der aktuellen Schreibweise, wie wir sie heute nach der Rechtschreibreform haben. Da wurde »Mehr« noch »Mär« geschrieben und es hieß damals noch »die gute Mehr« statt »das gute Mehr«.

Egal. Die Botschaft kommt rüber. Das Lied ist klasse. Der guten Mehr bring ich so viel,
Davon ich singen und sagen will
, heißt es weiter.

Na, dann wollen wir mal. Singen wir das Lied von dem guten Mehr.

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18 Das verlorene Paradies

Was haben wir für eine Vorstellung vom Paradies?

Kommen wir von dort, oder werden wir eines Tages dahin gelangen? Lag es in der Vergangenheit, oder kommt es noch? Ist es ein Ort oder ein nicht-Ort – eine Utopie also? Wir sprechen gerne davon, dass wir etwas »verorten« – ein Ausdruck, an den ich mich noch gewöhnen muss. Ich will ihn trotzdem verwenden und fragen: Können wir das Paradies verorten?

Als Kolumbus aufbrach, suchte er bekanntlich den Seeweg nach Indien. Er war sich allerdings nicht sicher, wohin ihn seine Expedition tatsächlich führen würde. Für alle Fälle hatte er den getauften Juden Rodrigo de Jerez an Bord, der Hebräisch und Aramäisch sprach. Falls er im Paradies anlanden würde, hätte er einen Dolmetscher dabei; denn er vermutete, dass eine der beiden Sprachen die Verkehrssprache im Paradies sein würde.

Sie hatten das Paradies an Bord

Als später die Missionare folgten, um die Heiden in der neuen Welt zu bekehren, brachten sie ihre Vorstellung von Paradies mit, als wäre es eine Beiladung, die auf ihren Schiffen eingeschleppt hatten. Es war eine Vorstellung, die von den Eingeborenen wortwörtlich so verstanden wurde, dass dieses wundersame »Land der Unsterblichkeit und der ewigen Ruhe« ganz in der Nähe sein musste, vielleicht nur eine Tagesreise entfernt. So wird etwa von den Stämmen der Guarani und der Tupi berichtet, dass sie aufbrachen ins »Land der großen Ahnen«, als hätte ihnen jemand gesagt: »sieh, das Gute liegt so nah!« Sie machten es den Europäern nach und suchten nun ihrerseits das Paradies.

Das Paradies ist die Kindheit

Die zu Hause gebliebenen Europäer meinten, dass die Eingeborenen schon im Paradies lebten. Sie glaubten sogar, das gelobte Land sei entdeckt worden. Die Menschen der Wildnis erschienen ihnen grundsätzlich »gut«, besser jedenfalls als die Menschen der alten Welt.

Jean-Jacques Rousseau kannte viele solcher Reiseberichte und bastelte daraus den Mythos vom bon sauvage, die Vorstellung vom »edlen Wilden«. Er brachte es auf die Formel: Alles, was aus der Hand des Schöpfers kommt, ist gut, es verdirbt in den Händen der Menschen und er schrieb über den glücklichen Menschen, der in solch paradiesischen Verhältnissen leben konnte: »Der Mensch blieb ein Kind.«

 

Mit dieser Formulierung sind wir bei der folgenreichen Umorientierung, die sich daraus ableiten lässt, angekommen. Hier findet eine Übertragung vom Ort auf den Menschen statt, eine Verlagerung des Reiches der Sehnsucht ins Innerweltliche. Das Paradies wurde nicht mehr im fernen Südamerika vermutet, es lag im Menschen selber, in einer frühen Entwicklungsstufe, in der Kindheit.

Das Paradies wurde also, um die Frage, die ich oben gestellt hatte, selber zu beantworten, nicht mehr irgendwo auf dem Globus verortet – es gibt tatsächlich alte Landkarten, auf denen das Paradies eingezeichnet ist –, sondern in der Kindheit.

Einen Abklatsch dieser Vorstellung finden wir im »Kinderparadies« von einem großen Möbelkaufhaus.

 

Wie sind die Öffnungszeiten im Paradies?

Wie lange dauert die Kindheit? Kommt man – wenn man im Paradies ist, jemals wieder raus? Mark Twain hatte angekündigt, dass er nicht ins Paradies wollte, wenn er da nicht rauchen dürfte und wollte wissen, ob da ewiges Rauchverbot herrscht und ob er kurz mal zum Rauchen rausgehen kann. Das sind berechtigte Fragen.

Denn wenn die Vorstellung vom Paradies von der Landkarte in die Kindheit umgetopft wird, dann wird sie damit zugleich vom Raum in die Zeit transformiert. Hatten wir erst das Problem, den richtigen Ort auszumachen, so haben wir nun das Problem, den genauen Zeitpunkt festzulegen.

George Orwell hatte sich vorgestellt, dass im Paradies überall Papageien in Bereitschaft stehen, die ununterbrochen: »Achtung, Achtung, hier und jetzt!« schreien – was ich ziemlich ungemütlich finde. Doch die Papageien machen es richtig: Das Paradies liegt nämlich nicht in der Unendlichkeit, sondern im Augenblick.

In einem besonderen Augenblick. In einem Augenblick, den wir den Kindern bescheren. Noch nicht. Gleich. Am Heiligen Abend. Das soll dann jedoch kein Abklatsch von einem Kinderparadies eines Möbelkaufhauses sein, vielmehr soll dann die Vorstellung vom »Paradies des Kindes« einen Moment lang im festlichen Glanz erstrahlen.

Natürlich nur mit dem richtigen Zubehör, das man rechtzeitig vorher besorgen muss. Teelichter nicht vergessen…

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17 Last Christmas

Wer hat es nicht sofort im Ohr? “Last Christmas I gave you my heart, but the very next day you gave it away …” Von allen musikalischen Zumutungen, die uns angetan werden – weil ja Weihnachten ist und wir uns alle liebhaben –, ist dieser Dauer-Hit (ein Link ist in diesem Fall nicht erforderlich, aber zur Sicherheit hier trotzdem) besonders lästig.

Ganz schlimm trifft es die Verkäufer im Weihnachtsgeschäft, die es ertragen müssen, dass dieser Song nicht nur zweimal, sondern ganze fünfmal pro Stunde gespielt wird, damit die Geschäfte wie geschmiert laufen. Die geplagten Verkäufer sind es, die am allermeisten zu leiden haben und denen das Lied inzwischen zu den Ohren heraushängt wie Lametta. Doch der Handel hält weiterhin an der Beschallung fest. Vielleicht ist das der Grund, weshalb der Postillon das Lied als Folter einstuft.

Last X-mas wirkt beim ersten Hören nicht besonders schlimm, es scheint ein durchschnittlicher Tra-la-la-Schlager zu sein, doch es steckt mehr dahinter. Viel mehr. Es handelt sich nicht nur um eine der vielen Lärmbelästigungen zum Advent, das Stück enthält darüber hinaus eine vernichtende Stellungnahme zu unserem Liebesleben; es besingt nicht nur die leicht verzeihlichen Irrtümer der Liebenden. Es offenbart durch seine Hartnäckigkeit und Penetranz die gnadenlose Endlosschleife, in der unser Liebesleid gefangen ist. Worum geht es?

Wer es immer noch nicht richtig verstanden hat, dem mag diese Google-Version weiterhelfen. Doch die meisten verstehen es schon. Irgendwie. Worum geht es? Was wird ausgesagt? George Michael will – wie er in dem Lied verkündet – seinen Fehler vom letzten Jahr vermeiden, to save me from pain, und diesmal sein Herz an someone special verschenken. An eine ganz besondere Frau also. Soweit so gut. Wir möchten ihm viel Glück für seine neue Liebe wünschen.

Same procedure as every year

So mögen wir gutwillig gedacht haben, als wir das Lied zum ersten Mal gehört hatten. Doch durch das regelmäßige Auftauchen zur Weihnachtszeit und durch die ständige Wiederholung hat sich die Bedeutung des Songs verändert. Inzwischen wissen wir, dass es nichts geworden ist mit seinem neuen Glück und auch unsere Wünsche nicht geholfen haben.

 

 

Man muss solche Texte stets im Kontext interpretieren und sich immer fragen: In welchem Zusammenhang steht das Lied? Haben wir es hier mit einer einmaligen Situation zu tun oder ist es vielmehr ein Vorfall, der regelmäßig wiederkehrt; einer, zu dem ein Lied passen würde wie Alle Jahre wieder kommt das Christuskind auf die Erde nieder, wo wir Menschen sind.

So ist es. Wir haben es hier eindeutig mit einer Serie zu tun. Mit einem Wiederholungszwang. Genau dieses Lied hatten wir im letzten Jahr auch schon gehört. George Michael hatte sich gründlich geirrt, als er dachte, er hätte sein Herz der Richtigen gegeben. Hatte er nicht. Im nächsten Jahr hatte er sich in der anrührenden Weihnachtsstimmung wieder aufs Neue verliebt und wieder fest daran geglaubt, dass es diesmal die Richtige ist. War es wieder nicht.

Gefangen in der Endlosschleife Liebesleid

So ging es Jahr für Jahr. So geht es weiter. Es ist kein Ende abzusehen. Die frohe Botschaft, die uns sagen wollte, dass in diesem Jahr mit dem Weihnachtsfest alles besser werden würde, hat sich bisher regelmäßig als falsches Versprechen erwiesen. Mit dem letzten Weihnachtsfest war eben nicht alles besser geworden, das letzte Mal war genauso ein Reinfall gewesen wie das Mal davor.

Was also, so muss man sich fragen, sagt das Lied über den Zustand unseres Liebeslebens aus? Wir haben es mit einem massenhaften Liebesleid bei kurzfristiger Selbsttäuschung kurz vor Heiligabend zu tun. Der Song hat inzwischen den Rang von einem traditionellen Weihnachtslied, er ist schon über fünfundzwanzig Jahre alt. Wir haben bereits ein Silberhochzeitsfest des Liebeskummers hinter uns.

War es immer schon so gewesen? Diesen Eindruck macht diese Version. Die Musiker gucken so seltsam irritiert. Ahnen sie womöglich etwas? Eine Version, die mir besonders zu denken gegeben hat und die mir deutlich machte, wie weit sich diese Botschaft schon verbreitet hat und wie tief sie in alle Lebensbereiche eingedrungen ist, habe ich selber mit dem Handy aufgenommen. Es war im Januar des Jahres 2014, in Hanoi auf dem Weg zum Flughafen.

Brian hat sich ebenfalls an dem Stück versucht, hatte dabei allerdings das Gefühl, er müsse sich in mehrere Persönlichkeiten aufspalten. Er konnte zwar nicht verhindern, dass er sich das alles mit anhören muss, wollte sich aber die Bescherung nicht auch noch angucken müssen.

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16 Stille Nacht – laute Tage

Stille Orte

Stille Nacht – ist eines der bekanntesten Weihnachtslieder, viele meinen, es sei auch das schönste. Vielleicht. Bei Weihnachtsliedern gibt es keine Hitlisten. Das Lied ist über 200 Jahre alt und enorm weit verbreitet. Manche behaupten, dass die Melodie aus der Südsee stamme, dabei ist es umgekehrt, die Komposition von Franz Xaver Gruber hat sich bis in die Südsee verbreitet und der Text von Joseph Mohr wurde in 300 Sprachen und Dialekte übertragen.

Man kann heute an Touristenprogrammen teilnehmen und „12 Stille-Nacht-Nacht-Orte“ in Oberösterreich, Tirol und dem Salzburger Land besuchen und sich da von der Stimmung vor Ort inspirieren lassen. Dazu könnte man bei Kerzenlicht Versuch über den Stillen Ort von Peter Handke lesen.

Das stille Vergnügen und ein Geheimnis

Als Kind hielt das Lied für mich ein stilles Vergnügen und ein Geheimnis bereit, das mich ein wenig beunruhigte. Man stilles Vergnügen hatte ich an dem berühmten Owi. Ich wartete immer auf die Stelle, an der es heißt: „Alles schläft, Owi lacht“. Owi war der Held meiner Kindertage, mein Idol. Ich wollte allzu gerne derjenige sein, der zuletzt lacht, der auch dann noch lacht, wenn alle anderen schon schlafen.

Das Geheimnis, das mich ein wenig beunruhigte, lag in dem „holden Knaben im lockigen Haar“. Nicht nur dass ich offensichtlich keine Locken hatte, ich war vermutlich auch nicht „hold“ – ich wusste nicht einmal, was „hold“ überhaupt war und worin der Vorteil lag, wenn man „hold“ war und worin wiederum der Nachteil bestand, wenn man es nicht war. Owi hatte mir offenbar etwas voraus, das ich nicht hatte.

Was heißt überhaupt hold? Es blieb mir ein Rätsel. Unsere Nachbarn auf dem platten Land hießen Holtkamp. Wussten die etwa mehr? Es sah nicht danach aus. Die schienen dem Geheimnis auch nicht näher gekommen zu sein. Die Kinder hatten jedenfalls auch keine Locken und wussten vermutlich ebenso wenig, was hold ist. Wie auch immer: das Lied ist wunderschon.

Der Preis der Stille

Manchmal beschleicht mich der Verdacht, dass die Stille einen Preis hat. Die heilige Stille hat eine Kehrseite, der große Weihnachts-Hit hat eine B-Seite. Nicht nur eine. Viele B-Seiten. Ich meine die vielen lauten Einkaufstage, die wir über uns ergehen lassen müssen. Mit Musikbegleitung. Ich meine den Weihnachtslieder-Ramsch, der sich uns in Fußgängerzonen, Weihnachtsmärkten und Radioprogrammen aufdrängt. 

Es kommt mir vor, als hätte jemand die Parole ausgegeben: Wenn es schon eine stille Nacht geben muss, dann muss in der Vorweihnachtszeit ununterbrochen Radau gemacht werden, dann muss der öffentliche Raum akustisch vollgemüllt werden mit Weihnachts-Pop. Da hilft es dann auch nicht mehr, wenn man die Pudelmützen fest über die Ohren zieht. Dann gibt es dann vielleicht noch eine stille Nacht, aber keine stillen Tage mehr.

Das meiste ist süßlicher Soft-Pop und zusätzlich weichgespülte Schlager-Musik. Manchmal wird auch etwas, das auch nur entfernt an Weihnachten erinnert, weil beispielsweise Schnee vorkommt, gnadenlos auf Disco getrimmt: Ich habe sogar schon den Schneewalzer im Vierviertel-Takt gehört.

Das ist keine Musik

Viele Weihnachtslieder kommen heute im Gewand von Jazz-Musik daher. Doch das ist keine Musik. Von Adorno stammt bekanntlich – zum Leidwesen vieler aufrechter Jazzmusiker – das Diktum, dass Jazz keine Musik sei, sondern lediglich eine „zeitlose Mode“. Jazz greife nur etwas auf und kleide es in die typischen Jazz-Gewänder mit angereicherten Akkorden und spielerischen Solo-Einlagen. Das mag für Jazz allgemein gelten. Nicht für Weihnachts-Jazz. Das ist nämlich keine „zeitlose Mode“, sondern saisonbedingte Mode.

Noch schlimmer ist es mit Reggae. Hier und hier. Oh, weh. Das ist nicht still. Und es ist nicht einmal Jazz.

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15 Warten auf den Weihnachtsmann

In der Weihnachtszeit geht es nicht nur um Gaben, die der Weihnachtsmann bringt, es geht auch um Abgaben, die fällig werden, wenn die Gaben rechtzeitig zugestellt werden sollen. Abgaben sind von allen zu entrichten, die heute unterwegs sind.

Wenn nicht die richtigen Plaketten vorhanden sind, wenn nicht alle Vorschriften zur Benutzung der gekennzeichneten Zonen eingehalten werden, dann wird das nichts mit der termingerechten Zustellung. Gaben und Abgaben gehören untrennbar zusammen.

Was da alles aus den Rohren und Schornsteinen kommt und zum Himmel aufsteigt, das sind nicht nur Gase, das sind auch Abgase. Und so mancher Verkehrsteilnehmer klagt, dass heute mit den zusätzlichen Steuern, Abgaben und Gebühren nicht nur kassiert, sondern richtig abkassiert wird.

Der Weihnachtsmann ist artig

Der Weihnachtsmann gehört natürlich zu denen, die sich artig an alle Vorschriften halten. Andere wiederum finden die vielen Vorschriften inzwischen nur noch abartig.

Der Weihnachtsmann kennt es ja nicht anders. Er weiß: Seine Rolle ist es, immer nur Gaben zu bringen und Abgaben zu leisten. Er ist derjenige, der immer nur gibt und gibt und gibt, der schenkt und schenkt und schenkt und der selber nie etwas kriegt. Gaben bringen und Abgaben leisten – das ist sein Schicksal. Das ist sein Wesen.

Manchmal komme ich mir auch so vor wie ein Weihnachtsmann und ich denke mir dann im Stillen: Sind wir heute nicht alle irgendwie Weihnachtsmänner?

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14 Oh Tannenbaum

Wenn man heute eine Frage hat – und wer hat das nicht? –, dann geht man einfach ins Internet zu der bekannten Seite „Gute Frage“. Da wird einem geholfen. Aber wird einem wirklich geholfen? Oder nur dann, wenn man auch die richtigen Fragen stellt?

Es soll schon mal jemand auf die Rückfrage, was der Fragesteller denn überhaupt für einen Computer habe, geantwortet haben: „einen weißen“. Doch womöglich ist das eine Legende so wie die Meldung, dass immer mehr Leute 110 anrufen, weil sie wissen wollen, was im Fernsehen läuft. In diesen Fällen kann man getrost von schlechten Fragen sprechen.

Die drängenden Fragen, die sich heute stellen, sind ganz anders. Sie lauten: wie grün, wie grün, wie grün? Wie grün ist dein Auto? Dein Kühlschrank? Dein Fußabdruck? Deine CO2-Bilanz? Wie grün ist dein Speiseplan? Wie grün ist dein Einkaufszettel? Wie grün ist dein Stromverbrauch? Wie grün sind deine Urlaubspläne?

 
 

Wie grün sind deine Blätter?

Der erste, der sich – meiner Erinnerung nach – dieser Frage stellen musste, war der Tannenbaum zur Weihnachtszeit. Bei dem wurde hartnäckig nachgefragt: wie grün sind deine Blätter?

Als Kind hatte ich den Rummel nicht verstanden. Klar, so ein Tannenbaum ist nun mal grün – na und? Das kannte ich gar nicht anders. Warum sollte man das besingen? Dann könnte man genauso singen: Oh, Himmelbett, oh Himmelbett, wie weiß sind deine Laken.

Da musste noch mehr dahinterstecken. Gab es etwa eine geheime Botschaft, die einem die Großen nicht verraten wollten? Was war denn nun das Besondere an dem Grün des Tannenbaums? Wir versuchen, dieser durchaus guten Frage nachzugehen.

Noch ein Tipp: Geschichten und Gedichte zu Weihnachten von den so genannten Dienstagspropheten (das ist eine Gruppe von Literaten und Musikern – Martin Betz, Sebastian Krämer, Bernhard Lassahn und Georg Weisfeld –, die im Zebrano-Theater in Berlin am zweiten Dienstag des Monats auftreten) gibt es hier: Diesmal wird Weihnachten ein Dienstag.

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13 Tattoo

Fest heißt „Fest“, weil es fest ist.

So ist es tatsächlich: ein Fest nennen wir „Fest“, weil es fest ist. Daher der Name. An dem Termin wird nicht mehr gerüttelt. Auch wenn er einigen viel beschäftigten Managern nicht passt und sie Heilig Abend lieber um eine Woche verschieben würden. Es geht nicht. Es bleibt dabei. Der Termin wird eingehalten. Er ist fest.

So ist Weihnachten. Der Termin – 24.12. – ist fest und bleibt so. Der Tannenbaum behält sein Grün, auch zur Winterzeit. Zuverlässig und treu. Es gibt eben doch noch Dinge, auf die man sich verlassen kann. Das ist schön.

Die Menschen möchten etwas Festes. Sie brauchen das. Etwas, auf das sie sich verlassen können. Etwas, dem sie vertrauen können. Etwas, das sich nicht mehr ändert, was auch nicht mehr nachverhandelt wird. Wenn schon die Beziehungen nicht mehr richtig fest sind („Was?! Seid ihr jetzt etwa richtig fest zusammen?“), wenn es keine Preisbindungen mehr gibt und wenn auch die Fahrkarten flexibel sind (und die Ankunftszeiten sowieso nicht eingehalten werden), dann freut man sich um so mehr, dass es trotzdem noch etwas Festes gibt. Wenigstens etwas.

Tattoos sind auch etwas Festes

Die Sehnsucht nach etwas Festem zeigt sich auch an der Mode der Tattoos. Man sieht sie heute überall. Ob bei den neuen Stars, die Deutschland angeblich sucht oder beim Fußball. Man hat manchmal sogar den Eindruck, es ginge gar nicht mehr darum, Tore zu schießen, sondern nur noch darum, Tattoos vorzuzeigen.

Tattoos sind keine Abziehbilder. Die ist nicht nur aufgemalt. Das ist keine Schminke. Das soll jetzt so bleiben (zwar kann man es wieder entfernen lassen, aber …). Das ist in die Haut eingehämmert. Richtig fest. Das bleibt so – jetzt und immer.

 

Wer sich ein Tattoo machen lässt, gibt der Welt zu verstehen, dass die Entwicklung seines persönlichen Geschmacks und seines Empfindens für Schönheit, Kunst und Schmuck an einem Endpunkt angekommen ist. Das bleibt jetzt so. Endstation.

Was wollen uns die Zeichen sagen?

Siehe da: ein Delfin. Was soll das bedeuten? Ist eine Frau mit Delfin als Tattoo etwa eine gute Schwimmerin? Gar eine Rettungsschwimmerin? Oder will sie einfach nur ihre Vorliebe für diese wunderbaren Tiere zum Ausdruck bringen und uns signalisieren, dass sie Delfine besonders gerne mag – und nicht etwa Haie?

Sind die Zeichen auf ihrer Haut eher Warnungen oder Verlockungen? Will so eine Frau womöglich gerne deine Süße sein oder will sie dir Saures geben?

Ich wollte es wissen. Ich dachte, dass es sich dabei womöglich um Blindenschrift handelt und bin ganz vorsichtig mit der Fingerspitze darübergefahren. Mit Fingerspitzengefühl. Ein schönes Wort übrigens, das sich Joachim Heinrich Campe ausgedacht hatte: so richtig mit Fingerspitzengefühl. Man wundert sich. Man hält es gar nicht für ein deutsches Wort. Dabei gibt es das nur in Deutsch.

Ich wollte jedenfalls ausprobieren, ob ich ihr Tattoo (falls es Blindenschrift ist) mit der sanften Berührung meiner Finger entziffern konnte. Ich konnte. Ich habe es sofort an ihre Reaktion gemerkt. Es war klar, was sie mir damit sagen wollte. Übersetzen ließe sich das am besten mit der Formulierung: „Finger weg!“

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12 Die Leiden des jungen Grafikers

Weihnachten in den Tropen

Da hängt Lametta an den Antilopen!

Oh, Weh! Weihnachten in den Tropen wirkt wie ein einziger Fehler, als wäre nicht nur ein Detail, das man leicht austauschen oder verbessern könnte, falsch, sondern alles. Alles falsch. Alles Lüge. Alles fehl am Platze.

Sieh nur: diese aus dünnen Lichterketten gebildeten Rentiere in der Wüste von Ägypten, die so wirken, als würden sie mitten im Sprung innehalten, weil sie plötzlich selber merken, dass sie sich gründlich verrannt haben. Und schau dir das an: dieses riesige Gebilde von einem Weihnachtsmannschlitten auf einem Flachdach in Australien, als hätte da ein verirrter Geisterfahrer einen vorläufigen Parkplatz gefunden. Wie wundersam ist das alles!

Rätselhafte Zeichen aus einer fremden Welt

Ich kann mich erinnern, dass auf dem Land im Norden, wo ich lebte, manchmal Manöver von englischen Truppen stattfanden. Die stellten zusätzlich zu den vorhandenen Verkehrsschildern eigene Schilder mit rätselhaften Zeichen auf, die eine Funktion für die Durchführung der Manöver hatten, aber keine für mich und für die Dorfbewohner.

 

So wirkt Weihnachten in den Tropen. Wie die Invasion einer fremden Macht, die eigene Schilder aufstellt. Es ist die Invasion des kommerziellen Weihnachtsfestes. Die Invasion des schlechten Geschmacks. Die Invasion der falschen Signale. Nicht nur in den Tropen. Da sticht es einem nur besonders deutlich ins Auge. 

Für alle, die es Weihnachten besonders schwer haben

Ganz besonders muss es denen ins Auge stechen, die ihre Augen an Schönheit gewöhnt haben, an sorgfältige Gestaltung, an Stil und an Geschmack. An einen Blick auf die Welt, in der die Form der Funktion folgt.

Weihnachten ist immer auch die Zeit, in der wir derer gedenken, die sich besonders alleine fühlen. In den Radiosendungen von „Weihnachten auf hoher See“, an die ich mich erinnere, wurde den Seeleuten gedacht, die Weihnachten nicht zuhause sein konnten.

So will ich diesmal den Künstlern gedenken; den Designern; denen, die zaubern können; den Fotografen; all denen, die den besonderen Blick haben, und ganz besonders den schönen Frauen mit dezentem Make-up. Kurz: all denen, die auf ein gutes Aussehen achten. All denen, für die eine Erscheinung noch mit dem Wesen verbunden ist – all den Arbeitern mit Form und Farbe.

All denen, die es verstehen, Dingen ein kleines Glanzlicht aufzusetzen und nun von einem aufdringlichen Leuten wie von Halogen-Lampen so geblendet werden, dass sie in der Vorweihnachtszeit  ­– wie in den Tropen – Sonnenbrillen tragen müssen, weil es ihnen sonst zu stark ins Auge sticht.

Also: eine kleine Gedenkminute für den anspruchsvollen Designer.

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11 Probleme bei der Überlieferung

Muss es immer ganz genau stimmen? Müssen die Orts- und Zeitangaben präzise sein? Gilt es sonst nicht? Verliert eine Erzählung womöglich an Bedeutung, wenn der Ort nicht stimmt? Oder die Zeit falsch angegeben wird? 

Kann man das überhaupt immer ganz genau sagen? Sind da nicht gewisse Ungenauigkeiten und Unschärfen unausweichlich?

Heisenberg fuhr einst viel zu schnell auf der Autobahn und wurde von einem Polizisten angehalten, der ihn fragte: „Wissen Sie eigentlich, wie schnell Sie gefahren sind?“ Darauf soll Heisenberg geantwortet haben: „Nein. Aber ich weiß genau, wo ich hergekommen bin.“

Irgendwann während meiner Zeit am Gymnasium hatte ich gehört, dass man mit neuen Berechnungen rausgefunden hätte, dass Jesus nicht etwa im Jahre null geboren wurde, sondern erst im Jahr vier.

 

Das fand ich zwar ärgerlich, weil ich im Geschichtsunterricht schon so viele Zahlen auswendig gelernt hatte – etwa zum Peloponnesischen Krieg von 431 v. Chr. Bis 404 v. Chr. –, es war aber auch nicht so schlimm. Ich müsste, wenn sich die neuen Rechnungen bestätigen würden, einfach nur zu den bereits auswendig gelernten Daten immer vier dazuzählen: 4 Plus – so wie mein Notendurchschnitt. Bei Terminen nach Christi Geburt entsprechend vier abziehen. Das war zwar lästig, aber damit hätte ich mich arrangieren können.

Ich hatte auch kein Problem damit, dass Jesus demnach erst vier Jahre später als ursprünglich angenommen ans Kreuz geschlagen worden wäre. Von mir aus hätte man ihn sogar noch länger leben lassen können. Aber dass er auch schon vier Jahre vor seiner Geburt auf die Welt gekommen sein sollte, das … also das … das konnte ich mir nicht so recht vorstellen. Irgendetwas in mir sträubte sich dagegen.

Es hat mich jedenfalls stark beschäftigt, und ich stand kurz davor, meine Eltern zu fragen, ob sie sich noch erinnern können, was sie eigentlich vier Jahre vor meiner Geburt gemacht hatten. Inzwischen finde ich, dass man mit Zeit- und Ortsangaben getrost großzügig umgehen kann. Das sind Probleme bei der Überlieferung, auf die es nicht wirklich ankommt. Hauptsache, der Sinn bleibt erhalten.

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10 Es schneit im Walp

Wie man es spricht

Man schreibt es im Deutschen so, wie man es spricht. Mit dieser Faustregel hatte ich kein Glück. Es lag womöglich daran, dass ich einen Deutschlehrer hatte, an dem ein Schauspieler für die ganz, ganz große Bühne verloren gegangen war. Er sprach bei Diktaten so überprononciert, dass der Text bei offenem Fenster auch auf der gegenüberliegenden Straßenseite verstanden werden konnte; die Passanten draußen hätten mitschreiben können. Man konnte ihn nicht nur in der Klasse gut verstehen, sondern auch außerhalb.

Er diktierte: „Er zog das Hemd an“; ich schrieb: „Er zok das Hempt ann“. Er sagte „außerhalb“, ich schrieb „außerhalp“. Deutsch fünf.

Der Witzzwang ist deutsch!

Dass ich mich davon immer noch nicht richtig erholt habe, verrät das Lied „Es schneit im Walp“ – Walp wohlgemerkt. Warum Walp? Damit es sich auf außerhalp reimt. Deshalb. Das nennt man Reimzwang. Dem sind viele – eigentlich alle – Liedermacher erlegen.

Bei einigen Sonderlingen kommt noch der „Witzzwang“ dazu. Dass es sich dabei um ein deutsches Wort handelt, das international Karriere gemacht hat – zumindest in Medizinerkreisen – habe ich aus dem Buch Der Mann, der seine Frau mit dem Hut verwechselte von Oliver Sacks, erfahren.

 

Das hat mich gewundert. Ich wusste zwar, dass aus der deutschen Sprache schon so manches originelles Doppel-Substantiv in den internationalen Sprachgebrauch eingewandert ist – Blitzkrieg, Kindergarten, Doppelgänger, Weltschmerz, Ohrwurm, Zeitgeist, Schadenfreude, Schreibtischtäter … –, aber dass ausgerechnet „Witzzwang“ dazugehört, hätte ich nicht erwartet.

Nachgereichte Versöhnung

Deutsche und Zwang? Ja. Deutsche und Witze? Hm … Eher nicht. Mein erwähnter Deutschlehrer, der inzwischen gestorben ist, hatte jedenfalls keinen Sinn für Witze gehabt (für Zwang schon).

Ich möchte ihn nachträglich grüßen und ihm freundliche zuwinken. Ich mochte ihn eigentlich und nehme es ihm längst nicht mehr übel, dass er mir schlechte Noten gegeben hat. Er musste es tun. Weihnachten – ja, schon die Vorweihnachtszeit – ist immer auch die Zeit der Versöhnung. Ich bin inzwischen versöhnt mit ihm. Das gilt für die Erinnerung an die guten, alten Zeiten und jetzt und immerdar. Im Klassenraum und außerhalb.

Also dann: Es schneit im Walp!

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9 Analog, digital, egal, egal

Es liegt am Alter. Ich gehöre noch zu denen, die Angst haben, aus Versehen das Internet zu löschen. Ich fühle mich oft noch sehr unsicher im Umgang mit dem Internet und bezweifle, dass ich stets das richtige Wort parat habe und die Neuerungen wirklich verstanden habe.

Ich kann mich noch gut an den Moment erinnern, als ich merkte, wie mich die digitale Welt überholt, wie sie an mir vorbeirauscht und mich links liegen lässt – oder rechts. Es fing damit an, dass ich den Unterschied zwischen einem digitalen Anrufbeantworter und einem analogen nicht verstanden habe.

Musste man das überhaupt verstehen? Musste man das unterscheiden? Warum? War das wichtig? Der Anrufbeantworter, den ich neuerdings hatte – so vermutete ich jedenfalls –, war ein digitaler.

 

Dann geschah es. Ich wollte eine Freundin anrufen und hatte ein kleines Mädchen am Apparat, die mir sagte: „Die Mama schläft. Die kann jetzt nicht telefonieren“.

Da habe ich mich sogleich gefragt: War das jetzt ein analoger Anrufbeantworter? Ein digitaler war es jedenfalls nicht. Oder sollte man ihn Bio-Anrufbeantworter nennen? Ich wusste es einfach nicht.

Seither ist die Schere immer weiter aufgegangen zwischen der richtigen und der digitalen Welt. Mein Unverständnis nimmt zu. Zum Glück habe ich jugendliche Berater, die mir auf die Sprünge helfen und mir sagen, wohin ich mich wenden kann, wenn ich Fragen habe.

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8 Das Übel des Vergleichs

Mit dem Vergleich – das meinte jedenfalls Jean-Jacques Rousseau – kam das „Übel“ in die Welt. Vorher war es offenbar besser gewesen. Ohne Vergleich. Es stimmt schon: Die Leute vergleichen sich bei jeder Gelegenheit. Beispielsweise vergleichen sie das, was andere getan haben mit dem, was sie selber gerne tun wollen (aber nicht tun). Das Ergebnis so eines Vergleichs fällt dann nicht gerade vorteilhaft aus, und das ist dann übel. 

Vergleiche machen die Leute neidisch: Sie sehen den Glanz, den andere verbreiten und erkennen nicht die Mühe, die es erforderte, etwas glänzen zu lassen. Auch übel. Heute hört man oft: „Das kann man nicht vergleichen“ oder auch: „Das darf man nicht vergleichen“.

Doch. Kann man. Soll man sogar. Wenn man etwas vergleicht, sieht man die Gemeinsamkeiten (so viele sind es oft gar nicht – Überraschung) und sieht die Unterschiede (mehr, als man dachte – nächste Überraschung). Vergleiche an sich sind nicht übel. Es kommt darauf an, was man vergleicht.

Ungleichheit gleich „Unrecht“

Wer sagt „Das kann man nicht vergleichen“, meint eigentlich etwas anderes. Er meint: „Das darf man nicht gleichsetzen.“ Geschenkt. Gleichsetzen kann man nur, was auch gleich ist. Vergleichen ist nicht gleich gleichsetzen. 

Doch wenn etwas nicht gleich ist, dann erspähen wir da sofort eine „Ungleichheit“, und eine Ungleichheit setzen wir mit „Unrecht“ gleich (Ungleichheit = Unrecht). Deshalb werden so viele Vergleiche angestellt: Welche Gruppe ist besser als die andere? Welche verdient mehr? Welche ist größer?

Das halte ich wiederum für übel. 

Sehen wir uns einmal so einen Vergleich an. Es geht um ein Tier, das in verschiedenen Weihnachtsliedern besungen wird. Wie sieht es aus? Kann man das vergleichen? Was ist besser?

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7 Weihnachten in Deutschland

30 Jahre sind es her.

Seit 30 Jahren sind die deutschen Teile wieder zusammen. Nicht nur zur Weihnachtszeit.

Vorbei sind die Zeiten, als wir in der Weihnachtszeit Kerzen in die Fenster gestellt haben für die „Brüder und Schwestern“ im Osten. Oma, Opa, Tante und Onkel waren natürlich mitgemeint. Besonders wichtig waren die Schwestern. Die Schwestern waren gut. Die Brüder schlecht. Wenn man schlecht über die Leute „von drüben“ reden wollte, sagte man „ich kenne die Brüder“. Damit war jedes Urteil ausreichend begründet – mit einer Schwester wäre das nicht passiert.

Vorbei sind auch die Zeiten, als drüben ein Weihnachtsengel „geflügelte Jahresendfigur“ genannt wurde. So sagte man in der DDR, die sich mit solchen Wortschöpfungen vom kapitalistischen Westen und von christlichen Traditionen abgrenzen wollte. Doch so richtig geflügelt war das Wort in Wirklichkeit nicht (Es wurde im Osten gar nicht so oft benutzt), und bürokratische Wortungetüme gab es im Westen auch. Aber es ist eine schöne Mär, die man sich nun zu Weihnachten erzählen kann.

 

Vorbei auch die Zeiten, als man glaubte, an der Laune der Grenzbeamten den Zustand der inndeutschen Beziehungen ablesen zu können. Zeigten die neuen Schikanen etwa, dass uns eine neue Eiszeit bevorstand? Oder deuteten unverhoffte Erleichterungen auf ein kommendes Tauwetter hin? So war es im Osten.

Ganz anders im Westen: Über bevorstehende Eiszeiten, kommende Tauwetterperioden oder eine drohende Erderwärmungen gaben nicht die Grenzer Auskunft, das konnte man daran ablesen, wie hoch an einem Freitag die Schüler hopsten. 

Also, machen Sie ein Ohr frei und lauschen Sie den gesamtdeutschen Impressionen zur Weihnachtszeit.

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6 Probleme mit der Rute

Der Nikolaus kommt. Heute ist der Tag der Rute. Aber keine Sorge – das war einmal. Das muss lange vor meiner Zeit gewesen sein. Ich habe das selber nicht mehr mitgekriegt. Ich war von Anfang an dagegen.

Ich bin auf dem Land aufgewachsen und in eine Zwergschule gegangen, in der – es ging nicht anders – mein Vater zugleich mein Lehrer war. Wenn ich selber später auch Lehrer geworden wäre – was ich durchaus vorhatte – dann wäre aus mir jemand geworden, den Urs Widmer als „lebenslänglichen Schulhäusler“ charakterisiert hätte: in die Schule, aus der Schule, wieder in die Schule, immer nur Schule, Schule, Schule.

Migrationshintergrund habe ich außerdem, aber hauptsächlich bin ich von einem dermaßen starken Pädagogik-Hintergrund geprägt, dass es mir selbst heute nicht leichtfällt, die erworbene Pädagogen-Mentalität abzulegen, als wäre es ein aus der Mode gekommener Mantel.

Als ich nicht mehr in die Zwergschule, sondern aufs Gymnasium ging, aber immer noch im Schulhaus wohnte, habe ich und bei Advents- und Weihnachtsfeiern ausgeholfen. Ich habe das traditionelle rote Kostüm übergeworfen und habe selber den Weihnachtsmann gegeben. Nun kann ich es ja verraten. Die Kinder sind inzwischen groß. Ich war es. Ich habe den Weihnachtsmann gespielt. Ich tat es nur unter eine Bedingung: Keine Rute!

 

 

Inzwischen hatte sich herumgesprochen, dass die Prügelstrafe endgültig der Vergangenheit angehört und dass – wie man gerüchteweise hörte – demnächst überall die anti-autoritäre Erziehung eingeführt würde. Da wollte ich auch höchst persönlich ein Teil der fortschrittlichen Bewegung sein und als progressiver Weihnachtsmann grundsätzlich ohne Rute auftreten.

Ich war bestimmt nicht der erste Weihnachtsmann ohne Rute, doch ich kam mir so vor, als wäre ich ein Pionier. Ich war pädagogisch vorbelastet, ich war vom Zeitgeist angehaucht und brachte den kulturellen Wandel ins Dorf: Ich war der sanfte Weihnachtsmann, die Verkörperung des neuen Männer-Ideals des Softies. Ich kam nicht etwa draußen vom Walde, sondern direkt aus dem Schulhaus und brachte Verständnis und Vergebung statt Rute und Strafe. Es wurde nicht geprügelt, es wurde darüber geredet.

Die Gespräche finden immer noch kein Ende. Wir reden und reden und reden. Später werden wir dann einmal sagen können: Gut, dass wir drüber geredet haben. 

Auch die Sache mit der Rute ist noch nicht endgültig geklärt. Immer noch nicht. Prügeln nein, aber: Wohin mit der Rute? Wohin?

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5 Weihnachten in trauter Zweisamkeit

Es ist nicht immer nur lauschig.

Es kann auch schief gehen.

Gerade in der Weihnachtszeit tun sich manchmal Abgründe auf und nichts kann einem so viel Qual bereiten wie Geschenke, die mit Liebe gemacht sind.

Aber will man wirklich dem anderen immer nur Freude bereiten – oder vielleicht auch Leid?

Schauen wir mal:

„… von Corinna bekam ich ein Männerparfum von Clive Christian. Darauf hatte ich mich schon gefreut, seit ich die Flasche in ihrer Wohnung entdeckt hatte. Während ich große Überraschung spielte, wusste ich, daß ich bei Ebay mindestens zweihundert Euro dafür kriegen würde. Dann müsste ich allerdings häufiger duschen, damit mein Körpergeruch nicht mehr Dauerthema zwischen uns wäre.“

So schreibt es Georg Weisfeld in einer Weihnachtsgeschichte. Er hat natürlich auch ein Geschenk für seine Liebste: selbst gestrickte Socken.

 

„Corinna riss die mühsam zusammengekleisterte ‚Enge-lein-blasen-in-Trompeten‘-Verpackung auf, schrie entzückt ‚Neiiiiin!’ und hielt sich eine Socke an den rechten Fuß. Nun folgte eine gekonnte ‚Chaka-mir-geht-es-gut‘-Performance, indem sie auf mich zukam, um mir einen innigen Kuss und eine innige Umarmung zu verpassen. Ich spürte ihre Enttäuschung. Die sehnlichst gewünschte Handtasche von Moncler war einfach nicht drin gewesen.

Hier passen offenbar die finanziellen Verhältnisse nicht richtig zusammen.

Aber Geld ist nicht alles. Es gibt ja auch noch Liebesfreud und Liebesleid. Wie sieht es damit aus?

Passt das zusammen?

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4 Lass uns Winterschlaf halten

Dieser Kalender mit Laterne nennt sich bekanntlich „der lauschige Kalender“. Für alle, die es besser wissen, möchte ich an dieser Stelle sagen: Ja, ich weiß: Der Kalender selber lauscht natürlich nicht, der Kalender selber ist nicht lauschig. Der Hörer ist es, der lauscht. Nicht der Kalender. Lauschig ist das ganze Drumherum der Vorweihnachtszeit. 

Es geht bei solchen fragwürdigen Bezeichnungen immer um Menschen, nicht um Geräte. Der Fernseher lässt ja auch nicht – nur weil er so heißt – von sich aus seinen Blick in die Ferne schweifen. Das müssen schon die Menschen machen.

Falls alle, die nicht wissen, ob Menschen oder Dinge gemeint sind, habe ich hier ein paar Empfehlungen. Einige Ratgeberbücher, die womöglich Hilfestellungen geben und Klarheit schaffen können.

Hier also ein paar Buch-Tipps:

»Das leckere Kochbuch«

»Der praktische Leitfaden zum Selbernähen«

»Gewichtheben – leicht gemacht«

»So lernt man lernen«

Mit einer Einführung in das Lernen-lernen-lernen.

»Ansteckende Krankheiten für Jedermann«

 

»Reiseführer mit Tipps, die garantiert in keinem Reiseführer stehen« –

auch in diesem nicht.

»Ich weiß alles besser«

            Ratgeber für Leute, die alles besser wissen

»Ich weiß alles besser«

            Ratgeber für Leute, die alles besser wissen

            (Zweite verbesserte Auflage)

 

Also, noch einmal: lauschig ist lediglich die Stimmung vor Weihnachten. Nicht der Kalender selber. So lauschig ist die Stimmung nun wieder auch nicht immer. Jedenfalls nicht draußen. Wenn es uns da draußen zu ungemütlich wird, dann sollten wir uns verkriechen und so lange Winterschlaf halten. Machen wir es den Bären nach.

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3 Die leise Botschaft

“Zu laut!“ Das meinten jedenfalls damals – lang ist es her – meine Eltern und auch all die nahen und die fernen Verwandten, wenn ausnahmsweise Musik von solchen Wundergruppen wie den Beatles, den Rolling Stones, den Kinks oder Troggs im Radio lief, „zu laut! Zu laut!“

Falsch! Ich meinte damals, nicht nur einen überlegenen Musikgeschmack – und das überlegene Weltverständnis – zu haben, ich meinte auch, dass ich all die Ignoranten und Kritiker der Beat-Musik gerade bei einem unzulässigen Gegenargument erwischt hätte.

 

Es war nicht zu laut. Wie stellten sie sich das vor? Das Radio drehte doch nicht plötzlich von selber die Lautstärke auf, der Regler blieb auf dem Posten, auf dem er war. Diese Kritiker und Ignoranten stellten sich offenbar dumm. Als wüssten sie nicht, dass es einen Knopf zur Lautstärkeregulierung gibt und dass es in ihrer Macht steht, die Musik leise oder laut zu stellen. Der Mensch regelt das, das Radio macht das nicht von alleine. Es sei denn, wir glaubten an Wunder.

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2 Wie es war und wie es ist Wie es ar und wie es is

Wer einen Adventskalender hat, ist jung geblieben und geht munter vorwärts zurück in die Kindheit. Er erinnert sich daran, dass er immer schon wusste, dass das Beste erst noch kommt. Mit einem Adventskalender hat man eine Zukunft, auf die man sich freuen kann und eine Vergangenheit, an die man sich gerne erinnert. Nun ja, so richtig schön war es auch nicht. Und so richtig schön ist es auch im Moment nicht. Draußen nicht. Drinnen nicht.

 

Aber spätestens in der Erinnerung wird es schön, richtig schön; denn die Erinnerung – so hat es jedenfalls Jean Paul gesagt –, ist eine Sonnenuhr. Erstaunlicherweise funktioniert diese Sonnenuhr auch bei bedecktem Himmel und sogar im unaufgeräumten Zimmer bei Kerzenlicht.

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1 Winterzeit

Weihnachten 2020 wird uns vermutlich als ein Fest mit wehmütigem Unterton in Erinnerung bleiben Weil in diesem Jahr so viel ausfällt, weil die Stimmung vor Weihnachten eingetrübt ist, weil Märkte abgesagt werden und so mancher Glühwein diesmal nicht zum Glühen gebracht und so manche Kerze nicht angezündet wird, wollen wir trotzig an den kleinen Freuden festhalten – und werden sogar singen.

Wenn das so ist, wie es ist, dann behalten wir eben die Weihnachtszeit, wie es sie früher gegeben hat, in froher Erinnerung. So wie wir früher voller Vorfreude in der Vorweihnachtszeit die alte Weihnachtsbaum-Dekoration aus den Vorjahren wieder ausgepackt haben, Geschenke vorbereitet und Ständchen gesungen haben, so packen wir den Adventskalender wieder aus. Als tägliche kleine Aufmerksamkeit.

Diesmal ist es ein Kalender, den man sich in aller Ruhe anhören kann, nicht nur angucken, nicht nur durchlesen, sondern anhören:

Ein Kalender zum Zuhören also, zum Lauschen: ein lauschiger Kalender. Mit Laterne.

Oh, Weh, ein Kalauer, ein Wortspiel. Soll das etwa ein Kalauer-Kalender sein? 

Nein. Das heißt: Ja. 

Das heißt: Ja, aber …

Aber schon Robert Gernhardt (ich glaube, er war das, ich war es jedenfalls nicht) sagte, dass die Wortwitze gemacht werden müssen, sie bestehen drauf, sie drängeln sich vor, sie wollen raus. Alle. 

 

Wir werden erst dann Erlösung finden (ich glaube, er sprach tatsächlich von „Erlösung“), wenn alle Witze gemacht worden sind.

Ob wir uns nach so einer Erlösung besser fühlen werden, ist noch eine ganz andere Frage. Aber so weit kommt es sowieso nicht. Wir gehen der Erlösung immer nur in kleinen Schritten entgegen, wir kommen niemals an. Wir kommen der Erlösung nur „ein Stück weit“ (Wer war das noch mal, der das dauernd sagte? Ich komme gerade nicht drauf …) entgegen.

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